Reportage
Täglich versuchen Menschen über die Grenze zu Belarus in die Europäische Union zu kommen. Dafür nehmen sie teilweise eine Lebensgefahr in Kauf. Hilfsorganisationen versuchen die Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen. Bei den großen Kirchen herrscht Funkstille.
Von Paul-Philipp Braun
Stahlblau leuchten die LED auf die übergroße Marienstatue im weitläufigen Vorgarten eines Privathauses. Hier, mitten im Bialowieza-Wald hat man Platz dafür. Aussteigen und ein Foto dieses wundersamen Anblicks zu machen, ist gerade dennoch keine gute Idee. Es ist kurz nach acht Uhr. Im Schritttempo fahren wir über Kolonnen- und Waldwege, die laut Navigationsgerät als Hauptstraßen ausgewiesen sind. Immer bereit, von sieben auf mehr als 80 Kilometer pro Stunde zu beschleunigen und vor ungebetenen Begegnungen zu entfliehen. So fühlt es sich illegal an, was eigentlich mehr als geboten ist: Menschen in Not zu helfen. Ausgestattet mit Taschenlampen fahren wir die Wege nahe der polnisch-belarussischen Grenze ab. Wir halten nach jenen Ausschau, die unter Einsatz ihres Lebens versuchen, über die grüne Grenze in die Europäische Union zu gelangen. Mehrmals pro Woche machen Tomasz und seine Mitstreiter das. "Es ist oft ein Wettlauf gegen die anderen", sagt er. Dabei wollen die Freiwilligen nur die Menschen im Wald mit Essen, warmer Kleidung und Medizin versorgen. Viele von ihnen harren tagelang bei Temperaturen um den Gefrierpunkt aus, um den Grenzübertritt bei günstiger Gelegenheit zu schaffen. Sind sie dann in Polen, warten sie oft noch lange, um möglichst sicher ins Landesinnere und von dort aus nach Skandinavien, Deutschland oder die Benelux-Staaten zu kommen. Die anderen, von denen Tomasz spricht, das ist die polnische Armee, das sind paramilitärische Einheiten und die Grenzpolizei. Letztere treffen auch wir einige Zeit nachdem wir die Marienstatue hinter uns gelassen haben und über freies Feld fahren. Mit Blaulicht wird unser Geländewagen gestoppt. Ein Polizist im Tarnanzug bleibt neben dem Auto stehen und hält die Kalaschnikow im Anschlag, während ein Zweiter lange unsere Personalausweise kontrolliert. "Wir müssen denen gar nicht sagen, wo wir hinwollen. In Europa gilt Freizügigkeit", sagt Juristin Wiebke, die an diesem Abend mit dabei ist.
Katz-und-Maus-Spiel
Doch europäisches Recht interessiert hier kaum. Seit dem Herbst haben die polnischen Behörden entlang der Grenze zum früheren Weißrussland eine "rote Zone" eingerichtet. Wer den drei Kilometer breiten Streifen betritt, dem drohen Strafen. "Dabei geht es uns nur darum, die Leute vor dem sicheren Tod zu bewahren. Erst vor wenigen Wochen ist eine Schwangere im Wald umgekommen. Sie war im sechsten Monat", schildert Tomasz, der eigentlich einen anderen Namen hat und inzwischen in Skandinavien lebt. "Aus Menschlichkeit", so sagt er, sei der gebürtige Pole in das riesige Waldgebiet im Osten der EU zurückgekommen. Seit einigen Wochen ist er nun immer wieder auf Patrouille. Er kennt das Katz-und-Maus-Spiel, das sich die Aktivisten mit den staatlichen Grenzschützern fast jede Nacht liefern. Schlimmer und gefährlicher seien aber, berichtet er, die paramilitärischen Bürgerwehren, die ebenfalls die Grenze zu schützen versuchen: "Wenn die uns mit dem Auto anhalten wollen, müssen wir einfach ganz schnell abhauen. Das kann sonst sehr unangenehm werden." Kurz nach unserem unfreiwilligen Stopp halten wir schon wieder. Tomasz bittet um Verständnis, aber er habe nun eine andere Aufgabe, müsse in die rote Zone. Wir fahren in die Unterkunft zurück. Am nächsten Morgen erfahren wir, dass eine Gruppe von elf Flüchtlingen im Wald um Hilfe gerufen hatte. Über die sozialen Netzwerke stehen sie mit den Aktivisten im Kontakt, erhalten von ihnen Nahrung und Kleidung. Diese kommt aus ganz Europa. Immer wieder bringen Hilfsorganisationen und Privatleute die benötigten Unterstützungen in die Region. Gerade ist auch ein Transport aus Thüringen eingetroffen. Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt (Awo) aus Weimar und Jena haben in ihren Einrichtungen gesammelt und bringen einen VW-Bus voller Decken, Pullover und Desinfektionsmittel in das unübersichtliche EU-Außengrenzgebiet.
Umweltschützer und Krankenschwestern
Bei der Grupa Granica, einer Initiative, die sich vor vier Jahren gründete und damals gegen die Abholzung des Naturschutzgebietes Bialowieza protestierte, werden sie die Hilfsgüter los. Hier, in einem großen Holzhaus mitten im Wald sammeln Aktivisten aus Polen und Deutschland vor allem Essen, Kleidung und Handy-Ladegeräte, um sie in nächtlichen Versorgungsaktionen an die Flüchtlinge im Wald zu bringen. Neben polnischen Aktivisten sind auch deutsche dabei, so wie Rose. Die Mittfünfzigerin ist gelernte Krankenschwester, kommt eigentlich aus Hamburg, lebt aber inzwischen in Berlin. Die vergangenen Jahre verbrachte sie, schildert sie, im griechischen Thessaloniki, arbeitete dort für die Hilfsorganisation Medical Volunteers International in der Flüchtlingshilfe. Dass sie nun wieder an einer EU-Außengrenze ist, um das Leid von Flüchtlingen zu mildern, frustriert sie. Vom Friedensnobelpreisträger Europa habe man sich, da sind sich die Aktivisten im Holzhaus einig, mehr erhofft.
Auf illegale Grenzübertritte folgen illegale Pushbacks
Das läge auch, erklärt Rose, an den illegalen Pushbacks, also der staatlichen Rückführung der Asylsuchenden hinter die Grenze. "Die Polizei und das Militär sind dafür in ganz Polen unterwegs. Egal wo man einen Illegalen antrifft, man bringt ihn zurück", berichtet Rose. Wer nicht zurück muss, der kommt in ein Flüchtlingslager, bis sein Asylersuchen gemäß des Dublin-Abkommens bearbeitet wurde. Über ganz Polen seien diese verteilt, sagt sie. Unterstützung für die Flüchtlinge gebe es derzeit viel, sagt Rose. Organisationen aus ganz Europa würden sie und ihre Mitstreiter versorgen, was aber fehle, das sei der politische Rückhalt. Zwar seien immer wieder Abgeordnete von Landesparlamenten und dem EU-Parlament im Grenzgebiet unterwegs, bewirkt hätten diese aber bisher nichts. Die Kirchen, so berichtete Tomasz, würden in der angespannten Lage keine gute Rolle spielen. So sei die katholische Kirche Polens sehr eng mit der Regierung verbandelt, die in Ostpolen beheimatete Orthodoxe Kirche zeige ein nationalistisches Gesicht. Nächstenliebe käme, meint Tomasz, nur im Alphabet vor dem Wort Staat. Lediglich einige evangelikale Pastoren würden Spenden sammeln und bei der Koordination der Hilfstransporte unterstützen, erfahren wir. Ein Gespräch mit ihnen sei aus Sicherheitsgründen allerdings nichts möglich.
Was Christen wohl Nächstenliebe nennen
Ortswechsel: Gut 15 Kilometer östlich des Waldhauses der Grupa Granica steht ein kleines neues Einfamilienhaus. Hier leben Kasha und ihre Familie. Kashas Schwester und Vater Achim sind da, als das Team der Awo klingelt. Freudig werden wir empfangen, die verbliebenen Pakete werden aus dem Transporter in die Küche des Wohnhauses gebracht. Kasha ist eigentlich Buchhalterin, inzwischen sei sie aber, erzählt sie lachend, eher so etwas wie eine Asyl-Expertin geworden. Im August seien auf dem weiten Feld vor ihrem Haus, gut 30 Kilometer westlich der Grenze, die ersten Menschengruppen aufgetaucht. Durstig und geschafft seien diese Leute gewesen, erzählt sie. Es sei das, was Christen wohl Nächstenliebe nennen, sagt Kasha, was sie schon damals angetrieben habe, den Menschen zu helfen. Inzwischen engagiert sich die gesamte Familie in der Flüchtlingshilfe. Immer wieder fahren sie ins Krankenhaus nach Hajnowka und helfen dort Kindern und Erwachsenen mit Kleidung und beim Ausfüllen von Dokumenten. All diese Menschen kommen mit der Hoffnung auf ein Leben in Ruhe und Sicherheit in die Europäische Union. Was sie dann tatsächlich hinter der Grenze erwartet, und dass man sie hier gar nicht haben und wieder zurückschicken will, war vielen nicht klar. "In Belarus streuen Behörden wohl das Gerücht, dass auf der anderen Seite schon Deutschland liegt", hatte Tomasz am Abend zuvor auf der Patrouillenfahrt erklärt.