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der mond über einem baum

„Ich erinnere mich nicht daran, wann genau mir bewusst wurde, dass meine Familie in Gefahr war. Was ich als Erstes erkannte, war eher die Gefahr, die allen Juden drohte, nicht nur unsere Familie.“ (Fried Köln, 26)

Es ist Hedis Frieds Antwort auf die Frage, nach dem Bewusstwerdung, dass ihre Familie durch die Nazis in Gefahr sei. Frieds Antwort fällt ausführlicher aus als ich sie hier zitiere. Zugleich ist dieser erste Satz, mit dem die schwedische Holocaustüberlebende beginnt, schon von enormer Tragweite. Es ist eine Tragweite, welcher wir uns am 9. November immer wieder bewusst werden müssen und der wir mit einem lauten, klaren, deutlichen NIE WIEDER begegnen müssen.

Der 9. November ist so etwas wie ein Schicksalstag der deutschen Geschichte. Ein Tag, der so schicksalshaft ist, dass er mich seit Tagen schon beschäftigt und mich zur Auseinandersetzung bringt. Zur Auseinandersetzung mit dem Datum und vor allem aber auch zur Auseinandersetzung mit mir selbst. In diesem Jahr ist der Tag der Reichspogromnacht vielleicht noch ein Stück mehr im Licht der Öffentlichkeit als er es sonst ist. Der Krieg im Nahen Osten, die Aussage Stephan J. Kramers zum immer stärkeren Wiederaufflammen des Antisemitismus in Deutschland und der Gefahr von Anschlägen, aber auch die Frage nach einem „gerechten Krieg“ – wie schon von Cicero beschrieben – machen die aktuelle Situation zu einer besonders schweren und den 9. November 2023 zu einem ganz herausragenden Datum.

 

„Die Lage ist extrem emotionalisiert, es herrscht eine abstrakt hohe Gefährdung.“ Stephan J. Kramer, Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (dpa 2023)

 

Für mich ist es ein Tag, an dem wir alle gedenken müssen, an dem wir uns mit der Shoa auseinandersetzen und zugleich unsere Solidarität mit den Betroffenen von Menschenhass, Gewalt und Hetze bekunden müssen. Es ist der Tag des KEIN FUSSBREIT DEN FASCHIST*INNEN.

Zugleich ist es aber auch ein Tag, an dem ich mir meiner eigenen Herkunft und meiner eigenen Geschichte ganz klar und eineindeutig bewusst werde. Es sind ausgerechnet in diesem Jahr drei Bücher, die mich beschäftigen und die an dieser Stelle kurz Erwähnung und Diskussion finden sollen. Zum einen ist es Dirk Oschmanns Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, das (nicht nur mich) schon seit einigen Monaten zum Denken bringt. Ich, einige Zeit nach dem Ende der DDR in der ehemaligen DDR geboren, habe ihn noch miterlebt: Den realexistierenden Sozialismus. Nicht in der Kaufhalle – Bananen gab es immer – und nicht an der Zonengrenze – Schengen gab es zwar in den ersten Lebensjahren noch nicht, ich musste aber das Taschengeld beim Urlaub dennoch in Schilling oder Lire umrechnen. Allerdings in den Köpfen der Menschen, die mich umgaben. Und natürlich auch in der Bausubstanz, in der ich zugegen war. Meine Kinderkrippe war ein dreistöckiger Flachbau mit ebenso flachen Treppenstufen zwischen den Etagen, meine Grundschule war im Typ Erfurt gebaut. Jörg Niendorf von der FAZ beschreibt das so: „[…] einen dreiflügeligen, lichtdurchfluteten Plattenbautypus.“ (Niendorf 2010) 

Aber bevor ich hier noch lange und viel aufzähle, wie es in der Post-DDR meiner Kindheit aussah, ist es vielleicht etwas wichtiger, die Menschen darin zu beleuchten. Nicht, um irgendwem zu nahe zu treten, sondern um das, was Valerie Schönian Ostbewusstsein getauft hat, besser zu verstehen. Die Menschen um mich herum, vor allem als (Klein)Kind hatten Jahrzehnte der DDR verstanden. Sie waren (und sind es manchmal noch) „gelernte DDR-Bürger“. (Das Gendern erübrigt sich hier, wurde zu DDR-Zeiten nicht, weil sich beim generischen Maskulinum alle mitgemeint fühlten und eben auch Frauen dann einfach zum Facharbeiter oder Lehrer ausgebildet wurden.)

Fakt ist, dass diese Menschen mich und sicher auch mein frühes Weltbild prägten. Meine Lehrer*innen hatten zum Teil schon mit meinen Eltern zu tun gehabt – ich lernte bei ihnen Werken, in der Generation vor mir waren sie Pionierleiterinnen. Und sie haben es auf diese Weise geschafft, eine tradierte Rolle zu erhalten und mehr noch: sie zu festigen, auch nach dem 9. November 1989.

Wieso ich das hier schreibe? Weil es mir wichtig ist zu erwähnen, dass der Fall der Mauer eben ein einschneidendes Erlebnis war. Dass er den Beitritt der DDR zur BRD ermöglichte und dass er das Ende eines Unrechtsregimes darstellte. Aber dass die DDR noch viel länger existierte. Nicht nur im Kopf einer ehemaligen Ministerin für Volksbildung (oder war sie eigentlich Schulminister?) mit lilafarbenen Haaren und Exilzuhause in Chile, sondern auch in den Köpfen vieler Menschen, die sich über die neuen Möglichkeiten freuten und sich der neuen Herausforderungen annahmen.

Und ich schreibe es, weil ich mir nicht anders zu helfen weiß, wie ich sonst mit dem 9. November und seiner Vielschichtigkeit umgehen soll. Einem Tag, der Deutschland prägte – und damit auch das Leben der Menschen im Land. Meins zum Beispiel.

Die anderen beiden Bücher, die mich prägten und beschäftig(t)en sind übrigens Juliane Stückrads Die Unmutigen, die Mutigen – eine tolle und etwas weniger polemische Ergänzung zu Dirk Oschmann und Dirk Liesmers Aufstand der Matrosen: Tagebuch einer Revolution. Denn auch das passt und gehört ganz klar zum Bewusstsein des 9. Novembers: Die Revolution von 1918 und Scheidemanns Ausrufung der Republik.

Quellen

  • dpa, Deutsche Presseagentur. 2023. „Chef des Verfassungsschutz warnt vor antisemitischer Gewalt“. Jüdische Allgemeine. 2. November 2023. https://www.juedische-allgemeine.de/politik/chef-des-verfassungsschutz-warnt-vor-antisemitischer-gewalt/.
  • Fried. Köln. Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden. 2019: DuMont Buchverlag.
  • Niendorf, Jörg. 2010. „Ein Typ, der Schule macht“. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 26. Mai 2010.
    https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wohnen/planen/ortsmarke-2-typ-erfurt-ein-typ-der-schule-macht-1980264.html.
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