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Ein Bild zeigt Beispiele für gendergerechte Sprachformen in deutscher Sprache, die verschiedene Methoden des Genderns verwenden, wie das Binnen-I, Gendersternchen, Gender-Gap, Doppelnennung, Neutralisierung, generisches Femininum und Kurzformen, um Inklusivität zu fördern.
Bisweilen ist es an der Zeit, auch ein wenig Selbstkritik zu üben. Heute (und auch sonst) ist ein guter Tag dafür. Die heutige Selbstkritik bezieht sich für mich auf meinen Glauben von vor zehn Jahren.
Bereits damals erkannte ich gewisse Unterschiede zwischen Geschlechtern an. Nicht nur biologisch, sondern vor allem gesellschaftlich. Ich war mir dem Mehr der Care-Arbeit durch Frauen bewusst und ich verstand, dass die Gender-Pay-Gap dringend bekämpft werden müsse.

Was ich nicht einsah, war der sprachliche Aspekt. Wieso sollten wir denn Frauen gesondert ausweisen, wenn sie sich doch mitgemeint fühlen können? Es gibt schließlich eine sprachliche Form und die ist das generische Maskulinum (was ich damals noch nicht als solches zu identifizieren und zu benennen wusste). Meine Mutter hatte noch in der DDR-Zeit ihren Facharbeiter gemacht (und einen entsprechenden Brief dafür erhalten). Meine Großmutter begriff sich immer als Arbeitnehmer und wenn ich von Schülern sprach, meinte das ja die Schülerinnen automatisch mit. Das war für mich vollkommen klar und unmissverständlich.

Das Erwachen der Gleichheit - Wie #MeToo und Jin, Jiyan, Azadî Deutschland veränderten

Heute, zehn Jahre später, stehe ich anders dazu. Die Welt hat sich weitergedreht und vor allem das Thema der Gender-Equality hat sich im Jahr 2024 ein ganzes Stückchen positiver entwickelt, zumindest in Deutschland. Bewegungen wie #meToo oder auch Jin, Jiyan, Azadî also Frauen, Leben, Freiheit sind in den vergangenen Jahren aufgekommen und haben vielen Menschen die Ungleichbehandlung der Menschen aufgrund ihrer Geschlechter offenbart.

Skandale wie die Aussage des späteren US-Präsidenten Grab ’em by the pussy führten zu Aufregung und Auseinandersetzungen. Die Entlarvung vieler maskuliner Machtmechanismen schreitet voran und macht glücklicherweise nicht halt. Dass es dennoch ein weiter Weg ist, bis das Patriarchat zurückweicht und wir von vollkommener Gleichberechtigung sprechen können, das bedarf meiner Meinung nach keiner Frage.

Die Macht der Worte: Sprache als Werkzeug für Gerechtigkeit und die Kontroverse um das Genderverbot in Bayern

Und dennoch können wir alle, wenn wir nur wollen, mit kleinen Mitteln dazu beitragen, die Welt gerechter zu machen. Es ist inzwischen ein geflügeltes Wort, dass Sprache das Bewusstsein formt. In seinem monumentalen Werk, LTI - Notizbuch eines Philologen, setzt sich Victor Klemperer mit der Sprache der NS-zeit auseinander und analysiert ganz klar:

Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.

Victor Klemperer, LTI - Notizbuch eines Philologen, 1947
Das eher auf Persiflage gemachte Buch Nazi German - 22 Lessons greift einige der bekannten NS-Wörter auf und erklärt sie bilingual in satirischem Ton. Etwa wenn die Phrase der Herzlichen Atmosphäre wie folgt übersetzt wird:
"Wenn zwei Männer zur Zufriedenheit des einen eine Verabredung treffen, während der andere eine Waffe zwischen den Rippen hat, dann hat solch ein Gespräch in einer herzlichen Atmosphäre stattgefunden." (Nazi German. Favoritenpresse. Berlin. 2022)

Was dieses lange Traktat über die Sprache des NS-Staats hier nun macht, wenn es doch eigentlich um die Gleichberechtigung in der Sprache gehen soll, mag einigen nicht eindeutig erscheinen. Aber es steht vielleicht pars pro toto für die Art und Weise, wie Sprache das Bewusstsein formt. Und es steht vielleicht auch dafür hier, dass es ein warnendes Merkmal sein muss, wenn uns sogenannte konservative Kräfte das Sprechen nach eigenen Bedürfnissen verbieten wollen.

In Bayern geschah dies erst kürzlich, als der Landtag im Freistaat den § 22 Abs. 5 der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern (AGO) änderte und nun das sogenannte Genderverbot einführte. Konkret bedeutet das, und so steht es in der Geschäftsordnung, "mehrgeschlechtliche Schreibweisen" sind unzulässig. Hier steht es im konkreten Wortlaut.

Sprache, Bewusstsein und Gender: Wissenschaftliche Erkenntnisse vs. politische Entscheidungen

Das fatale Signal, das von dieser Bearbeitung und Umformulierung der Ordnung ausgeht: Man ist bereit für eine vermeintliche Identität einen Rückschritt zu machen. Dass dieser Rückschritt darin besteht, sich gegen wissenschaftliche Forschungen einzusetzen, ist beängstigend.

Es gibt zahllose Studien renommierter Universitäten, die auf verschiedene Weise aufzeigen, wie Sprache das Bewusstsein bestimmt. Die Bundeszentrale für Politische Bildung widmet diesem Miteinander 2022 einen ganzen Text in ihrer Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschehen. Die Fachzeitschrift Psychology Today stellt die Frage, was was beeinflusst und am Institute of Linguistics of the National Academy of Sciences of Azerbaijan geht es nicht nur um das Bewusstsein, sondern um die Sprache als Gegegnstand des Denkens - also zumindest in einer gleichnamigen Studie

Interessant und absolut aktuell ist wiederum auch eine Untersuchung der Universität Würzburg in Bayern. Ja genau, dem Bayern, in dem nun per Ordnung das Gendern verboten werden soll. Hierin kommen Forschende zu dem Schluss, dass das Generische Maskulinum auf keinen Fall dazu führt, dass weiblich gelesene Menschen sich mitgemeint fühlen (können). Die Forschenden Psycholog*innen beschreiben darin Experimente, die nachweisen, dass Stereotype so tief verwurzelt sind, dass sie sich durch ein reines Mitgemeint-fühlen nicht auflösen lassen. 

In der Zusammenfassung der Studie mit dem Titel Reminding May Not Be Enogh:

Overcoming the Male Dominanxe of the Generic Masculine heißt es daher:
The generic masculine elicits male-biased gender representations. For nonstereotyped group nouns, this effect is eliminated by providing contextual cues containing both male and female elements, but not by informing and continuously reminding recipients of the generic intention.

Geschlechterspezifische Vorurteile: Die unsichtbare Präsenz in Sprache und Wahrnehmung

Und ja, an dieser Stelle ist es berechtigt zu fragen, weshalb ich mir einen solchen Aufwand mache und über einige Stunden (mit kleinen Pausen) an einem Text, der entsprechenden Recherche und Auswertung wissenschaftlicher Quellen dazu sitze. Die Antwort ist bedrückend. Auf meiner LinkedIn-Timeline tauchte dieser Tage ein Post einer Bekannten auf. Darin berichtete sie, wie sie mit "Schülern" auf einer Ausbildungsmesse ins Gespräch kam. Meine Frage, ob auch Schülerinnen dabei waren wurde eher schnippisch beantwortet, die Diskussion wurde unweigerlich ins Lächerliche gezogen.

Dabei geschah bei mir während des Lesens im Kopf genau das, was die Würzburger Studie belegt: Ich sah vor meinem geistigen Auge nur Jungen, keine Mädchen. Ein Phänomen, das mir selbst schon öfter auffiel - etwa wenn in die Nachrichten die Rede von Unternehmern ist oder ich in einem Text auf eine Aussage über Forscher stoße.

Die Vielfalt des Genderns: Persönliche Ansätze und Präferenzen

Wenn ich auf den Anfang dieses Textes zurückkomme, so muss ich feststellen: Menschen (männlich, nicht binär, weiblich oder wie auch immer gelesen) können sich ändern. Ich habe mich schon vor einiger Zeit geändert und für mich beschlossen: Ich gender. 

Wie ich das mache, das ist immer der Situation geschuldet. Manchmal passt die Doppelform (Liebe Schülerinnen und Schüler), manchmal nicht. Manchmal geht es in einer Aktiv-Form (Forschende haben herausgefunden...). Manchmal nutze ich eine Kurzform (Studis...). Am liebsten nutze ich den Gender-Stern (Leser*innen); dazu habe ich sogar mal einen journalistischen Kommentar geschrieben. 

Was ich aber niemals mache: Jemandem vorzuschreiben, wie jemand zu sprechen oder zu schreiben hat. Ich gebe lediglich Anregungen, weise gern darauf hin, was Sprache machen kann und dass es ganz einfach sein kann, Menschen mitzunehmen.

Beschluss des Bundesverfassungsgericht vom 10. Oktober 2017

Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG schützt nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Menschen, die sich diesen beiden Kategorien in ihrer geschlechtlichen Identität nicht zuordnen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts.

1 BvR 2019/16

Wie beeinflusst Gendern die Wahrnehmung von Geschlechtsidentitäten?

Gendern wird oft missverstanden und als Kampfterm wie "Genderwahn", "Genderunfug" oder "Genderismus" diffamiert, dabei werden erfundene Wortungetüme als angebliche Beweise für eine Verunstaltung der Sprache herangezogen. Doch Gendern ist keine Sprachpolizei; es bedeutet lediglich, sich in Wort und Bild geschlechtergerecht und für alle Geschlechtsidentitäten sensibel auszudrücken. Kurz gesagt: Es unterstreicht, dass jeder Mensch gleich wichtig und wertvoll ist. Der Begriff "Gendern" fasst dies prägnant zusammen, ist im Duden verzeichnet und dient als nützliches Werkzeug.

Woher bekomme ich Hilfe beim Gendern?

Das Internet ist voller Wunder - und voller Hilfen. Die Seite Genderleicht und Bildermächtig ist ein Angebot, auf das auch ich gern zurückgreife. Aber der ultimative Tipp scheinen mir (zumindest im schriflichen Bereich) KI-Angebote zu sein. Hier ist die Entwicklung aber stetig voranschreitend und die Trainingsmethoden für Bots wie ChatGPT oder Google Bard werden auch dahingehend immer besser.
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